Stories  Abitur 2001 - Rede zur Entlassungsfeier
gehalten von H. Liese


Liebe Eltern,
liebe Kolleginnen und Kollegen
und - last but not least -
liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

das Musikstück, das Alexander Egoudin und ich eben spielten, steht beziehungsreich am Anfang meiner Rede zu ihrer Abiturentlassung am heutigen Tag, denn als ich 1980 mein Abitur ablegte schrieb ich dieses Stück. Ich kann mich noch gut daran erinnern welche Gefühle ich hatte, Gefühle, die auch in diese Komposition mit hineingeflossen sind.
Zum einen war natürlich das Glücksgefühl groß, es endlich geschafft zu haben, vielleicht haben Sie den "Aufschrei" in der Musik wahrgenommen. Des weiteren stand aber auch die Frage vor mir, wie es denn nun weitergehen würde, eine Frage, die sich aufgrund des beschriebenen Glücksgefühls in Grenzen hielt, aber an diesem Tage doch mit fortschreitender Dauer der Lehrerrede an Substanz gewann. In dieses Gefühl einer gewissen Unsicherheit mischte sich zum Schluss ein bisher vielleicht verborgenes Gefühl der Wehmut. Die Wehmut, die einen eben beschleicht, wenn man einen Ort, zu dem man eine Zugehörigkeit entwickelt hat, und Menschen, die einen eine Wegstrecke seines Lebens begleitet haben, verlässt. "Partir c´est toujours un peu mourir" - Abschiednehmen ist auch immer ein wenig Sterben… .

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
Sie sitzen heute vielleicht mit ähnlichen Gefühlen hier. Sie sind stolz auf das, was Sie geschafft haben. Das können Sie auch sein. Sie haben das Abitur bestanden, wozu ich ihnen meine Glückwünsche ausspreche.
Die meisten ihres Jahrgangs kenne ich aus meinem Unterricht, aus Projekten, Studienfahrt und Arbeitsgemeinschaften, so dass ich mir ein Urteil erlauben darf und ihnen gerne bescheinige, dass mit ihnen ein guter Jahrgang die Schule verlässt, der mir vor allem in menschlicher Hinsicht positiv aufgefallen ist. Sie waren stets hilfsbereit, auch wenn es darum ging zusätzliche Aufgaben außerhalb des Unterrichts zu übernehmen. So verhinderten z.B. Schüler ihres Jahrgangs einen mir drohenden Bandscheibenvorfall, indem sie das für den Auftritt benötigte E-Piano für mich durch Weimar trugen. Ich habe Sie kooperativ und meistens lernwillig erlebt. Wobei mir die in jeder Stunde unüberhörbar, mit Nachdruck formulierte Forderung einer ihrer Mitschülerinnen: "Heute singen wir aber, Herr Liese" immer im Gedächtnis bleiben wird. Ich denke gerne an manche Projekte und manche Aktionen zurück, wie zuletzt die Chor- und Orchesterfahrt nach Polen und das Glockenkonzert, die Schülerinnen und Schüler ihres Jahrgangs mitgetragen haben.
Das Selbstvertrauen, mit denen Sie ihre Schulzeit mitgestaltet haben, sei es in der SV, in Konferenzvertretungen der Schülerschaft, VW-Coaching, Sport-, Theater und Musikveranstaltungen und vieles mehr, wird mir immer in guter Erinnerung bleiben. Nicht jeder Jahrgang ist eine gute Erfahrung für einen Lehrer, Sie sind eine gute Erfahrung.

Was könnte ich nun einer Gruppe junger Menschen Bedeutendes noch mitteilen, kurz bevor sie aufbrechen um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, der sie weg von der Schule führt? Was könnte ich einer Gruppe erzählen, die nicht länger die Schulbank drücken will und klar vor Augen hat, dass ich das letzte Hindernis bin zwischen ihren Zeugnissen und der Feier mit Familie und Freunden?
Nach längerem Überlegen habe ich mich nicht für ein sondern für drei Themen entschieden, die mir an diesem herausragenden Tag bedeutsam erscheinen: die Bildungsqualifikation, die Ethik des Berufslebens und der Paradigmenwechsel unserer Kulturgesellschaft. Nun ist mir allerdings sehr schnell klar geworden, dass ich, durch die Thematisierung aller Aspekte, ihre Vorgabe an mich, "über alles reden zu können, nur nicht über 10 Minuten", unbeachtet ließe, was ich vermeiden möchte.

Aber wenn ich Zeit hätte, würde ich über die Einsicht in die Notwendigkeit einer lebenslangen Bildung sprechen. Ob sie nun studieren oder eine Lehre beginnen werden, seien sie den neuen Eindrücken, die das Leben für sie bereithält gegenüber aufgeschlossen. Nutzen Sie ihr an der Schule erlerntes Wissen. Dabei meine ich nicht so sehr das punktuelle Fachwissen sondern vielmehr das "intelligente Wissen", das kontextunabhängig und kontextübergreifend in Hinblick auf zukünftige Probleme verwendet werden kann. Wer sich heute mit den Problemen unserer Zeit kompetent auseinandersetzen will, muss in der Lage sein kreativ zu arbeiten, Verbindungen zwischen Einzeldisziplinen des Fächerkanons herzustellen und damit Lösungsstrategien aufgrund bisher Gelerntem zu entwickeln.

Wenn ich Zeit hätte, könnte ich über die Bedeutung ethischen Handelns in der Berufswelt sprechen. Egal ob sie in ihrer Schulzeit Werte und Normen gehabt haben oder am konfessionsgebundenen Unterricht teilgenommen haben: es reicht nicht aus, Lippenbekenntnisse über hohe ethische Standards wie Toleranz, Vertrauen oder gar Nächstenliebe abzulegen, wenn wir nicht bereit sind diese selbst zu leben.

Wenn ich Zeit hätte, würde ich mit ihnen über die Gefahr der geistig-kulturellen und emotionalen Vereinsamung unserer Gesellschaft sprechen. Eine Reduktion des Menschen auf seine Funktion innerhalb der Gesellschaft und ökonomischer Abläufe führt nur zu seiner kulturellen Verarmung und emotionalen Leere, die am Ende den Menschen in eine selbstgemachte Identitätskrise stürzen wird. Der Mensch definiert sich selbst niemals allein über seine Ratio.

So, nun wissen Sie, was ich sagen würde, wenn ich Zeit dazu hätte. Lassen Sie mich ihnen nun das sagen, wozu ich Zeit habe. Ein Gedanke, den ich formulieren möchte und den sie mitnehmen können, wenn sie ihre Zukunft planen ist der, das "große Menschen auch große Vorbilder haben".

"Ich will sein wie Chateaubriand - oder gar nichts!"
Dies sagte Victor Hugo, da war er 20 Jahre alt.
Und geworden ist er schließlich - Victor Hugo, Mitglied der Académie Francaise, Haupt der französischen Romantik, einer der bedeutendsten Dichter seines Landes. Sein bekanntestes Werk "Der Glöckner von Notre Dame" ist jedem von uns ein Begriff. Victor Hugo hat sich ein Vorbild genommen, das er als konkretes Bild ständig vor Augen hatte. Ich halte es für wichtig, sich ein großes Vorbild zu wählen, denn nur große Menschen und große Ideen vermögen mitzureißen.
Die meisten Menschen, die es im Leben zu etwas gebracht haben, haben ein großes Vorbild, dem sie nacheifern. Der junge Violinist will spielen können wie David Oistrach, der junge Verleger so erfolgreich werden wie Henri Nannen, die junge Schauspielerin so gefeiert wie Ingrid Bergmann, die junge Wissenschaftlerin so anerkannt wie Madame Curie u.s.w.. Vorbilder stimulieren, regen an, fordern heraus und schaffen Reibungsflächen, an denen man sich selber schleift, bis man schließlich man selbst wird und dabei vielleicht - wie Victor Hugo - sein altes Vorbild übertrifft.
Und genau dies ist, was ich ihnen empfehle.
Eifern Sie einem großen Vorbild nach und lassen sie sich durch die Ideen und Visionen vorangegangener großer Menschen zu eigenen, persönlichen Zukunftsperspektiven und Träumen beflügeln. Hinterfragen sie diejenigen, die der Meinung sind, das alles, was in einer bestimmten Art und Weise gemacht wurde, so auch in alle Ewigkeit gemacht werden muss, aber vertrauen sie denjenigen, die ihre Erfahrung mit ihnen teilen wollen, Erfahrung, die Raum lässt für ihre Entdeckungen und Innovationen. Denken sie jedoch daran, dass es bei allen Träumen und Vorbildern nicht um die bloße Nachahmung eines Idols geht sondern vielmehr um sie selbst. Wenn sie sagen können, ich bin zwar nicht so bedeutend wie beispielsweise Victor Hugo geworden, aber ich bin ich selbst geworden, dann haben sie das erreicht, was wohl das Wichtigste im Leben ist, um Glück und Zufriedenheit zu empfinden: Eigenidentifikation, d.h. Annahme der eigenen Persönlichkeit mit ihren Schwächen aber vor allem auch mit ihren Stärken.

Dieser Prozess wird nie abgeschlossen sein, das Leben wird immer neue Ansprüche an sie und ihre Lernfähigkeit stellen. Ich wünsche ihnen, dass sie sich den Anforderungen des Lebens stellen und vorankommen, so dass sie einmal sagen können, ich bin ich selbst geworden.

Die Schule lässt Sie nun los. Sie werden aufatmen.
Und wir Lehrer?

Wir werden uns trösten mit einem Satz von Friedrich Nietzsche.
Friedrich Nietzsche hat gesagt: "Man belohnt seinen Lehrer schlecht, wenn man immer sein Schüler bleibt."
In diesem Sinne fühlen wir Lehrer uns von euch belohnt.


Gottes Segen und allzeit Glück auf eurem weiteren Lebensweg!


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©2001 by Abijahrgang 2001 · Aktualisierung:24.06.2001