Stories  Gedanken zu den Terroranschlägen vom 11.9.01
von Karoline Ostertag


Ich muss (Euch) jetzt einfach darüber schreiben.

Kann das sein ?
Kann das wahrhaftig passiert sein ?
Ich bin immer noch wie gelähmt, schockiert.
Die Bilder der Nachrichtensendungen und Tageszeitungen, die Kommentare, Statements und Schreie schwirren in meinem Kopf umher, erscheinen, sobald ich die Augen schließe. Ich kann an nichts anderes mehr denken, selbst nachdem schon über eine Woche vergangen ist.
Kein Wunder, wo ich auch hinsehe und -höre sind neue Meldungen, neue Bilder, neue Zahlen...
Es ist eigenartig.
Das erste Mal in meinem Leben habe ich wirklich das Gefühl, wirklich aufrichtig und aus mir heraus, dass mein Leben und seine Inhalte nichts Selbstverständliches sind. Das sie nicht unantastbar sind.
Obwohl ich eigentlich jeden Tag mindestens einen Artikel in der Zeitung lese, der mich berührt, mich beunruhigt, mir Angst macht, ich von Verbrechen lese, die u.a. in meiner unmittelbaren Umgebung passieren, habe ich erst durch die Tragödie in den USA die Erkenntnis gewonnen, wie verletzbar die Dinge in meinem Leben sind, die Dinge, an die ich glaube. Erschreckend...
Wie unglaublich schnell es geht, dass sich alles verschiebt! Wie wenige Momente es benötigt, damit sich die Welt verändert! Ich bin, glaube ich, weniger wegen der unabsehbaren Zahl der Opfer so geschockt, die dieses Verbrechen gefordert hat.
Natürlich ist es grausam, und ich vermute, dass ich noch nicht wirklich registriert habe, wieviele Menschen ihr Leben in diesen Tagen lassen mussten. Dennoch, was mich momentan weit mehr beschäftigt, was mir weit mehr Angst macht, ist diese Macht. Ist diese Gewalt. Diese gewaltige Macht.
Es ist etwas geschehen, was ich nicht mehr für möglich hielt, etwas, von dem ich gehofft, nein, von dem ich einfach verlangt, erwartet hatte, dass es niemals mehr eintreten wird:
Dass das Richtige durch das Falsche ersetzt wird.
Das sich alles verschiebt.
(Vielleicht war dieses Denken zu naiv? Andererseits denke ich, dass man heute, in den Zeiten da wir Menschen klonen, ihnen helfen zu sterben oder zu leben das wohl verlangen kann, oder?) Es kann doch nicht sein, dass Respekt, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Sicherheit, Frieden und Freiheit, Werte und Dogmen, die täglich! Von der ganzen Welt gelobt, gefordert und propagiert werden, plötzlich nicht mehr gelten?! Das ist doch falsch.
Heißt es nicht :"Das Gute siegt immer!"?
Wie kann es dann sein, dass Hass, Gewalt, und blinder Fanatismus die Welt beherrschen, in dem sie Einzug in die Köpfe der Menschen nehmen, sie beherrschen, ihr Handeln dirigieren; dabei macht es keinen Unterschied, ob nun aus Zustimmung dieser Dinge oder aus Ablehnung und Angst.
Unglaublich für mich dieser riesige Sturm von Verbrechen, von Hass, Fanatismus, blinder Wut, von Bösem, der die ganze Welt, innerhalb weniger Minuten unter sich begraben hat.
Der fähig war, sie so sehr zu verändern..
Es ist für mich absolut grotesk und unheimlich zu beobachten, wie diese Dinge das Denken der Menschen, vieler Menschen jedenfalls, verändern, nein, es reduzieren und zwar auf ein Niveau, das ich persönlich, im naiven Vertrauen auf die Menschlichkeit und ihre Fortschritte, nicht mehr für existent vermutet habe.
Es wird von einem zweiten "Pearl Harbour" gesprochen, von Vergeltung, Rache, Blutzoll, der zurückgefordert werden muss, von Verfolgung und Angriff. Von "Drittem Weltkrieg" ist sogar die Rede.
Aber dieser Sturm war außerdem fähig, das Denken und Handeln der Menschen in ganz allgemeinen Dingen zu verändern.
Gefühle, und Gedanken, mit denen ich längst abgeschlossen hatte, tauchen wieder auf.
Ich beginne mir Fragen zu stellen, die ich längst beantwortet hatte, beginne wieder an Personen zu denken, die in meinem Leben schon seit langem keine Rolle mehr spielen.
Ängste ergreifen wieder von mir Besitz, die ich längst überwunden glaubte. Wie wenig es braucht, wie unfassbar schnell es gehen kann, dass Werte, auf die ich mich Zeit meines Lebens verlassen habe, auf die ich vertraut habe, mir genommen werden können ,sie zumindest stark eingeschränkt werden. Werte, die ich als selbstverständlich erachtet habe, Werte, die (m)einem Leben Sicherheit, Sinn und Verlauf geben.
Es ist ein so seltsames Gefühl, mitansehen zu müssen, wie das alles, aus den Fugen gerät.
Wie schnell Prioritäten, die man glaubt, sich richtig gesetzt zu haben, in solchen Tagen an Bedeutung verlieren.
Wie das, was ich für richtig hielt, für "gut", nun ersetzt wird durch schlechtes, "böses".
Und ich kann nichts tun, absolut nichts, um meine Welt, meine Vorstellungen und Überzeugungen zu bewahren, zu schützen vor den Einflüssen dieser Tage. Ich muss zusehen, wie sich meine Meinung, meine Ansichten verändern, von Tag zu Tag verändern vor dem Hintergrund der Geschehnisse; wie ich mich verändere. Nein, das ist nicht unbedingt etwas schlechtes. Ich werde auch sicherlich nicht gleich zum Massenmörder mutieren.
Es ist nur merkwürdig für mich, irgendwie unheimlich zu erkennen, dass ich doch nicht alles von mir und über mich wusste/weiß, dass ich Gedanken in mir geweckt finde, die, meiner Meinung nach, gar nicht zu mir passen...
...

Schlimm und so eigenartig, dass es anscheinend eine solche Katastrophe benötigt, damit die Menschen wieder beginnen, sich ernsthaft mit sich selbst und ihrer Umgebung auseinanderzusetzen.
Schon beinahe zum Lachen, dass erst 5000 Menschen ihr Leben lassen mussten, bevor Politiker angefangen haben, einen vorsichtigen Blick über den eigenen Tellerrand hinweg zu riskieren und "normal Sterbliche" wieder auf die Gefühle, Empfindungen, auf die Stimme in ihrem Bauch hören.
Dass so eine Katastrophe geschehen muss, damit die Menschheit wieder erkennt, was sie ausmacht; was "wirklich wichtig ist ", um es einmal ganz platt zu formulieren.
Vielleicht lernen wir ja dieses Mal aus dieser "Sache"? Vielleicht erschüttert dieses Attentat endlich unsere eingebildete Überlegenheit, unsere Illusion, dass die Gegenwart sicher, gesund und friedlich ist, wenn wir erfolgversprechende, revolutionäre Entdeckungen für die Zukunft machen?
Unsere Ignoranz, die uns dazu bringt mit Scheuklappen durch die Welt zu laufen und nicht zu reagieren auf tausende Verbrechen, Hinrichtungen, Kriege, Völkermorde, "weil sie ja weit weg passieren, uns nicht direkt betreffen", diese Ignoranz, die uns erst reagieren und agieren lässt, wenn es schon zu spät ist, uns erst aus unserer Routine und Heuchlerei aufwachen lässt, wenn die Bombe schon geworfen ist.
Vielleicht...
Vielleicht auch nicht...
Wenn ich ehrlich bin, habe ich meine Zweifel...


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©2001 by Abijahrgang 2001 · Aktualisierung:22.09.2001