Kann das sein ?
Kann das wahrhaftig passiert sein ?
Ich bin immer noch wie gelähmt, schockiert.
Die Bilder der Nachrichtensendungen und Tageszeitungen, die Kommentare,
Statements und Schreie schwirren in meinem Kopf umher, erscheinen, sobald ich die
Augen schließe. Ich kann an nichts anderes mehr denken, selbst nachdem schon
über eine Woche vergangen ist.
Kein Wunder, wo ich auch hinsehe und -höre sind neue Meldungen, neue Bilder,
neue Zahlen...
Es ist eigenartig.
Das erste Mal in meinem Leben habe ich wirklich das Gefühl, wirklich
aufrichtig und aus mir heraus, dass mein Leben und seine Inhalte nichts
Selbstverständliches sind. Das sie nicht unantastbar sind.
Obwohl ich eigentlich jeden Tag mindestens einen Artikel in der Zeitung
lese, der mich berührt, mich beunruhigt, mir Angst macht, ich von Verbrechen
lese, die u.a. in meiner unmittelbaren Umgebung passieren, habe ich erst durch
die Tragödie in den USA die Erkenntnis gewonnen, wie verletzbar die Dinge in
meinem Leben sind, die Dinge, an die ich glaube.
Erschreckend...
Wie unglaublich schnell es geht, dass sich alles verschiebt!
Wie wenige Momente es benötigt, damit sich die Welt verändert!
Ich bin, glaube ich, weniger wegen der unabsehbaren Zahl der Opfer so
geschockt, die dieses Verbrechen gefordert hat.
Natürlich ist es grausam, und ich vermute, dass ich noch nicht wirklich
registriert habe, wieviele Menschen ihr Leben in diesen Tagen lassen mussten.
Dennoch, was mich momentan weit mehr beschäftigt, was mir weit mehr Angst
macht, ist diese Macht. Ist diese Gewalt. Diese gewaltige Macht.
Es ist etwas geschehen, was ich nicht mehr für möglich hielt, etwas, von dem
ich gehofft, nein, von dem ich einfach verlangt, erwartet hatte, dass es
niemals mehr eintreten wird:
Dass das Richtige durch das Falsche ersetzt wird.
Das sich alles verschiebt.
(Vielleicht war dieses Denken zu naiv? Andererseits denke ich, dass man
heute, in den Zeiten da wir Menschen klonen, ihnen helfen zu sterben oder zu
leben das wohl verlangen kann, oder?)
Es kann doch nicht sein, dass Respekt, Toleranz, Hilfsbereitschaft,
Sicherheit, Frieden und Freiheit, Werte und Dogmen, die täglich! Von der ganzen Welt
gelobt, gefordert und propagiert werden, plötzlich nicht mehr gelten?! Das
ist doch falsch.
Heißt es nicht :"Das Gute siegt immer!"?
Wie kann es dann sein, dass Hass, Gewalt, und blinder Fanatismus die Welt
beherrschen, in dem sie Einzug in die Köpfe der Menschen nehmen, sie
beherrschen, ihr Handeln dirigieren; dabei macht es keinen Unterschied, ob nun aus
Zustimmung dieser Dinge oder aus Ablehnung und Angst.
Unglaublich für mich dieser riesige Sturm von Verbrechen, von Hass,
Fanatismus, blinder Wut, von Bösem, der die ganze Welt, innerhalb weniger Minuten
unter sich begraben hat.
Der fähig war, sie so sehr zu verändern..
Es ist für mich absolut grotesk und unheimlich zu beobachten, wie diese
Dinge das Denken der Menschen, vieler Menschen jedenfalls, verändern, nein, es
reduzieren und zwar auf ein Niveau, das ich persönlich, im naiven Vertrauen auf
die Menschlichkeit und ihre Fortschritte, nicht mehr für existent vermutet
habe.
Es wird von einem zweiten "Pearl Harbour" gesprochen, von Vergeltung, Rache,
Blutzoll, der zurückgefordert werden muss, von Verfolgung und Angriff.
Von "Drittem Weltkrieg" ist sogar die Rede.
Aber dieser Sturm war außerdem fähig, das Denken und Handeln der Menschen in
ganz allgemeinen Dingen zu verändern.
Gefühle, und Gedanken, mit denen ich längst abgeschlossen hatte, tauchen
wieder auf.
Ich beginne mir Fragen zu stellen, die ich längst beantwortet hatte, beginne
wieder an Personen zu denken, die in meinem Leben schon seit langem keine
Rolle mehr spielen.
Ängste ergreifen wieder von mir Besitz, die ich längst überwunden glaubte.
Wie wenig es braucht, wie unfassbar schnell es gehen kann, dass Werte, auf
die ich mich Zeit meines Lebens verlassen habe, auf die ich vertraut habe, mir
genommen werden können ,sie zumindest stark eingeschränkt werden. Werte, die
ich als selbstverständlich erachtet habe, Werte, die (m)einem Leben
Sicherheit, Sinn und Verlauf geben.
Es ist ein so seltsames Gefühl, mitansehen zu müssen, wie das alles, aus den
Fugen gerät.
Wie schnell Prioritäten, die man glaubt, sich richtig gesetzt zu haben, in
solchen Tagen an Bedeutung verlieren.
Wie das, was ich für richtig hielt, für "gut", nun ersetzt wird durch
schlechtes, "böses".
Und ich kann nichts tun, absolut nichts, um meine Welt, meine Vorstellungen
und Überzeugungen zu bewahren, zu schützen vor den Einflüssen dieser Tage.
Ich muss zusehen, wie sich meine Meinung, meine Ansichten verändern, von Tag zu
Tag verändern vor dem Hintergrund der Geschehnisse; wie ich mich verändere.
Nein, das ist nicht unbedingt etwas schlechtes. Ich werde auch sicherlich
nicht gleich zum Massenmörder mutieren.
Es ist nur merkwürdig für mich, irgendwie unheimlich zu erkennen, dass ich
doch nicht alles von mir und über mich wusste/weiß, dass ich Gedanken in mir
geweckt finde, die, meiner Meinung nach, gar nicht zu mir passen...
...
Schlimm und so eigenartig, dass es anscheinend eine solche Katastrophe
benötigt, damit die Menschen wieder beginnen, sich ernsthaft mit sich selbst und
ihrer Umgebung auseinanderzusetzen.
Schon beinahe zum Lachen, dass erst 5000 Menschen ihr Leben lassen mussten,
bevor Politiker angefangen haben, einen vorsichtigen Blick über den eigenen
Tellerrand hinweg zu riskieren und "normal Sterbliche" wieder auf die Gefühle,
Empfindungen, auf die Stimme in ihrem Bauch hören.
Dass so eine Katastrophe geschehen muss, damit die Menschheit wieder
erkennt, was sie ausmacht; was "wirklich wichtig ist ", um es einmal ganz platt zu
formulieren.
Vielleicht lernen wir ja dieses Mal aus dieser "Sache"?
Vielleicht erschüttert dieses Attentat endlich unsere eingebildete
Überlegenheit, unsere Illusion, dass die Gegenwart sicher, gesund und friedlich ist,
wenn wir erfolgversprechende, revolutionäre Entdeckungen für die Zukunft
machen?
Unsere Ignoranz, die uns dazu bringt mit Scheuklappen durch die Welt zu
laufen und nicht zu reagieren auf tausende Verbrechen, Hinrichtungen, Kriege,
Völkermorde, "weil sie ja weit weg passieren, uns nicht direkt betreffen", diese
Ignoranz, die uns erst reagieren und agieren lässt, wenn es schon zu spät
ist, uns erst aus unserer Routine und Heuchlerei aufwachen lässt, wenn die
Bombe schon geworfen ist.
Vielleicht...
Vielleicht auch nicht...
Wenn ich ehrlich bin, habe ich meine Zweifel...